Kassenfehlbeträge können Anlaß geben, die (baren) Betriebseinnahmen zu schätzen. Die Fehlbeträge geben regelmäßig einen ausreichenden Anhalt für die Schätzung der Höhe nach.
Urteil vom 20. September 1989 X R 39/87
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Vorinstanz: FG Berlin
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Fundstellen: BFHE 158, 301; BStBl II 1990, 109
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I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt einen Einzelhandel mit Tabakwaren sowie eine Lotterieannahmestelle (Gewinnermittlung nach § 5 des Einkommensteuergesetzes – EStG –). Sie erklärte für 1982 einen Gewinn von 39 830 DM und einen Umsatz von 259 121 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt – FA –) erließ entsprechende Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide.
Bei einer Außenprüfung wurde festgestellt, daß die Kläger in ihrem Kassenbuch für 1982 am 26. Februar, 1. März, 4. November und 18. November Einlagen von jeweils 2 000 DM eingetragen hatte. Der Betriebsprüfer ging davon aus, daß die Einlagen nachträglich eingebucht worden waren. Ohne die Einlagen ergaben sich für die genannten Tage Kassenfehlbeträge. Der Betriebsprüfer schätzte griffweise zusätzliche Betriebseinnahmen von 3 000 DM. Dadurch erhöhte sich der Umsatz um 3 000 DM und der Gewinn um 2 730 DM (3 000 DM ./. Gewerbesteuerrückstellung).
Das FA folgte der Auffassung des Betriebsprüfers und erließ für 1982 Einkommensteuer- und Umsatzsteuer-Änderungsbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Einsprüche blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hob die Änderungsbescheide nebst Einspruchsentscheidung gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne Entscheidung in der Sache auf. Es führte aus: Die Schätzung des FA sei dem Grunde nach berechtigt. Die Kassenführung der Klägerin sei nicht ordnungsmäßig. Vier Eintragungen von Bareinlagen und eine Eintragung einer Barentnahme seien nachträglich vorgenommen worden. Jedoch könne die Schätzung der Höhe nach nicht gebilligt werden. Aus dem gesamten Akteninhalt ergebe sich nicht einmal ansatzweise, daß das FA dem Ziel einer Schätzung, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, habe nachkommen wollen. Eine Schätzung sei erst möglich, wenn eine weitere Sachaufklärung nicht möglich oder nicht zumutbar sei (Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226). Das FA habe griffweise geschätzt und keine Ermittlungen angestellt, welche Tatsachen den Einlagebuchungen zugrunde liegen könnten. In Anbetracht der Umstände biete sich eine Verprobung an. Hierzu sei das FA eher in der Lage als das FG. Das FA habe diese Arbeiten nachzuholen.
Das FA rügt mit der Revision die Verletzung der §§ 88, 162 AO 1977 und des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO. Es macht geltend: Die Feststellung von Kassenfehlbeträgen berechtige ohne weitere Sachaufklärung oder Verprobung zur Schätzung auch der Höhe nach. Der Betriebsprüfer habe, ausgehend von dem höchsten Kassenfehlbetrag am 4. November von 1 826,89 DM, diesen nebst einem Sicherheitszuschlag als zusätzliche Betriebseinnahmen schätzen dürfen. Der Sicherheitszuschlag sei so bemessen worden, daß sich ein angemessener positiver Kassenbestand ergeben habe. Derart geringe Betriebseinnahmenverkürzungen ließen sich durch Verprobungen nicht nachweisen.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Rechtsfehlerhaft ist dessen Urteil vor allem deshalb, weil das FG seine eigene Schätzungsbefugnis und Sachaufklärungspflicht (§§ 76, 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO 1977) nicht wahrgenommen hat und statt dessen nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO verfahren ist.
1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Buchführung – insbesondere die Kassenführung – der Klägerin im Streitjahr formell nicht ordnungsmäßig war.
Buchungen und sonst erforderliche Aufzeichnungen sind vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§ 146 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen überdies täglich festgehalten werden (§ 146 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Kassenaufzeichnungen müssen so beschaffen sein, daß ein Buchsachverständiger jederzeit in der Lage ist, den Sollbestand mit dem Istbestand der Geschäftskasse zu vergleichen (BFH-Urteile vom 31. Juli 1974 I R 216/72, BFHE 113, 400, 402, BStBl II 1975, 96; vom 17. November 1981 VIII R 174/77, BFHE 135, 11, 15, BStBl II 1982, 430).
Nach den Feststellungen des FG hat die Klägerin für das Streitjahr 1982 folgende fünf Bareinlagen und folgende Barentnahme nachträglich in das Kassenbuch eingetragen: Einlage 1. März 2 000 DM, Einlage 4. August 3 000 DM, Einlage 16. August 2 000 DM, Entnahme 28. Oktober 2 000, Einlage 4. November 2 000 DM und Einlage 18. November 2 000 DM. Zu der vom Betriebsprüfer ebenfalls als nachträglich eingebucht bezeichneten Einlage 26. Februar 2 000 DM hat sich das FG nicht geäußert. Für den 1. März, 4. August, 16. August, 4. November und 18. November ergeben sich ohne Berücksichtigung der Einlagen Kassenfehlbeträge von 165,47 DM, 690,52 DM, 524,04 DM, 1 826,89 DM und 1 234,92 DM. Der Wegfall der Entnahme von 2 000 DM am 28. Oktober führt hingegen nicht zu einem Fehlbetrag, sondern erhöht den buchmäßigen Kassenbestand. Die Einwendungen der Klägerin gegen die Feststellungen des FG sind unsubstantiiert und nicht in der Form einer Gegenrüge erhoben worden. Abgesehen davon enthalten die zu den FG-Akten eingereichten Kassenaufzeichnungen selbst ohne Einlagenstornierung weitere Fehlbträge, so am 5. Oktober, am 2. Dezember und am 16. Dezember.
Die nachträglichen Eintragungen und die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Fehlbeträge sind über das gesamte Jahr verteilt. Die Klägerin verstieß mit ihrer Buchungsweise gegen die Ordnungsprinzipien des § 146 Abs. 1 AO 1977. Die Einlagen und die Entnahme waren weder weitgerecht noch geordnet eingetragen worden. Insbesondere machen die Kassenfehlbeträge, unbeschadet weiterer Folgerungen, deutlich, daß die Kassenführung nicht ordnungsmäßig war. Die Fehlbeträge sind der Zahl und Größe nach so bedeutend, daß über sie nicht hinweggesehen werden kann (dazu BFH-Urteil vom 10. Juni 1954 IV 68/53 U, BFHE 59, 227, 231, BStBl III 1954, 298). Die Nichtordnungsmäßigkeit der Kassenführung ergreift bei der Struktur des Betriebs der Klägerin (sie tätigte vornehmlich Bargeschäfte) ihre gesamte Buchführung.
2. Zu Recht hat das FG die Voraussetzungen für eine Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen dem Grunde nach bejaht. Zu schätzen ist gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 u.a. dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag, und nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 dann, wenn die Buchführung nach § 158 AO 1977 der Besteuerung nicht zugrunde gelegt wird. Gemäß § 158 AO 1977 ist die Buchführung, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO 1977 entspricht, der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlaß ist, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.
Die Buchführung der Klägerin entsprach nicht der Vorschrift des § 146 Abs. 1 AO 1977 (S. oben 1.) und hatte sonach nicht die Vermutung sachlicher Richtigkeit für sich. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlage Betriebseinnahmen (Umsatz) war daher geboten. Nicht ordnungsmäßige Kassenaufzeichnungen können nach den Umständen des Einzelfalles den Schluß zulassen, daß nicht alle bareinnahmen verbucht worden sind (BFH-Urteil vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, 165, BStBl II 1982, 409).
Es ist nicht zu beanstanden, daß das FG das FA für berechtigt gehalten hat, Betriebseinnahmen der Klägerin hinzuzuschätzen. Die Klägerin hat nach den Darlegungen des FG für die Fehler in der Kassenführung keine vernünftige und nachprüfbare Erklärung angeboten. Das FG hat es nicht für glaubhaft gehalten, daß die Klägerin die Nachbuchungen nur vorgenommen hatte, weil diese zuvor in der Hektik des Geschäfts vergessen worden waren. Diese Tatsachenwürdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. Nicht gebilligt werden können die Ausführungen des FG zur Schätzung „der Höhe nach”. § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO ist nicht anwendbar. Wenn das FA davon ausgehen durfte, daß die Klägerin im Streitjahr Betriebseinnahmen nicht erklärt hatte, brauchte es keine weiteren Ermittlungen anzustellen, um den Umfang der Hinzuschätzung zu rechtfertigen. Dieser läßt sich regelmäßig dem Sachverhalt entnehmen, aus dem die Verkürzung dem Grunde nach hergeleitet wird. Dieser Sachverhalt gibt im allgemeinen ausreichend zahlenmäßige Anhaltspunkte für das Ausmaß nicht erklärter Betriebseinnahmen. Sollten solche Anhaltspunkte ausnahmsweise nicht erkennbar sein, ist auch eine griffweise Schätzung zulässig. Eine weitere Sachaufklärung im Sinne der vom FG angezogenen Rechtsprechung (Urteile in BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226, ferner in BFHE 135, 158, 162, BStBl II 1982, 409) ist sachlich nicht geboten. Derjenige, der Betriebseinnahmen nicht erklärt, soll keinen verfahrensrechtlichen Vorteil daraus ziehen können, daß das Ausmaß einer solchen Unterlassung nicht feststeht (dazu BFH-Urteil vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462).
Im Streitfall ergeben sich Anhaltspunkte für die Höhe der nicht erklärten Einnahmen aus den beanstandeten Einlagebuchungen oder den Kassenfehlbeträgen. Dabei reicht der Schätzungsrahmen von einer beanstandeten Einlagebuchung (einem Kassenfehlbetrag) bis zur Summe aller dieser Beträge. Das FA hat sich im unteren Rahmen dieses Bereichs gehalten, als es seiner Schätzung den höchsten Kassenfehlbetrag (nebst einem Sicherheitszuschlag) zugrunde legte. Auch im Schrifttum wird ein solches Verfahren für zulässig angesehen (Bichel, Die steuerliche Betriebsprüfung – StBp – 1974, 114, 116; Jost, Steuerwarte – StW – 1975, 137). Es läßt sich für den Regelfall mit der Erwägung begründen, daß eine Betriebseinnahmen-erhöhung in Höhe des höchsten Fehlbetrags und eines Sicherheitszuschlags (in Höhe eines angemessenen positiven Kassenbestands) alle vorkommenden Fehlbeträge ausgleicht. Wenn, wie im Streitfall, die Fehlbeträge aus der Nichtanerkennung von Einlagen an mehreren Stichtagen resultieren, kann für Schätzungszwecke sogar eine Addition der Fehlbeträge in Betracht kommen.
Das FG wird indessen bei der Überprüfung der FA-Schätzung die Feststellungen einbeziehen müssen, die es zusätzlich selbst getroffen hat. Es wird insbesondere seine Feststellung zu beachten haben, daß die Klägerin für den 28. Oktober 1982 eine Entnahme von 2 000 DM nachbuchte. Der Wegfall einer Entnahmebuchung führt zu einer Erhöhung des buchmäßigen Kassenbestands. Sollte diese Erhöhung bis zum 4. November 1982 fortgewirkt haben, würde für diesen Stichtag der bisher angenommene Kassenfehlbetrag entfallen. Auf diesen Fehlbetrag hat aber das FA bei seiner Schätzung abgestellt.
Sollte das FG die Schätzung des FA nicht bestätigen und weitere Ermittlungen für erforderlich halten, wird es § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht anwenden dürfen, jedenfalls nicht mit der Erwägung, das FA habe zwecks Bestimmung des Ausmaßes der Hinzuschätzung noch weitere Ermittlungen – insbesondere Verprobungen – anstellen müssen. Es ist kein Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift darin zu sehen, daß das FA in Ausübung seiner Schätzungsbefugnis die nicht erklärten Betriebseinnahmen anhand des höchsten Kassenfehlbetrags bestimmte.
4. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß das FG seine eigene Schätzungsbefugnis aus § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 158, 162 AO 1977 ausüben wollte. Es ist dann nicht auf eine Überprüfung beschränkt, ob das FA zu Recht geschätzt und sich in einem vertretbaren Schätzungsrahmen gehalten hat.
Macht das FG von seiner eigenen Schätzungsbefugnis Gebrauch, kann es seine Überzeugung von Schätzungsanlaß und -höhe gänzlich oder teilweise an die Stelle der Überzeugung des FA setzen. Dem FG steht es frei, zusätzliche eigene Überlegungen anzustellen. Dabei könnte es sich als zweckmäßig erweisen, wie vom FG selbst angeregt, die erklärten Betriebsergebnisse zu verproben.
Auch soweit das FG in Ausübung eigener Schätzungsbefugnis weitere Ermittlungen für erforderlich hält, kann es nicht nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO verfahren. Es muß diese Ermittlungen vielmehr selbst vornehmen. Das Vorliegen eines Verfahrensmangels i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO beurteilt sich nach der Rechtsauffassung des FA (BFH-Urteil vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661). Aus der rechtlich vertretbaren Sicht des FA ergab sich kein weiterer Ermittlungsbedarf.
Falls das FG bei Ausübung eigener Schätzungsbefugnis neue Schätzungsmethoden einführt, wird es die Grundsätze des BFH-Urteils in BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409 zu beachten haben.
5. Das FG wird im zweiten Rechtsgang, falls es eine eigene Schätzungsbefugnis in Anspruch nimmt, nach den vorstehenden Regeln unter 4., anderenfalls nach den Regeln unter 3. verfahren.
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